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Termine

"Gemalt" vom Wind im Herbst

Der in den USA lebende emeritierte Professor für Philosophie & Religion Dr.David Chandler beschäftigt sich seit ca. 5 Jahren in seinen Werken überwiegend mit den Themen Reflexion und Langzeitbelichtung. So entstand auch dies "Gemälde" eines herbstlichen Baumes im Wind.

David Chandler schreibt zu seinen Langzeitbelichtungen folgende philisophische Gedanken:

Kontemplative Fotografie

Abraham Joshua Heschel sagt: geistig zu sterben bedeutet, vom Augenblick nicht mehr überrrascht zu sein. So oft bin ich zu sehr beschäftigt mit Sorgen, Zielen, Hoffnungen, Ängsten – der Termin heute nachmittag; die Deadline, die ich gerade verpasst habe; was ich heute abend für das Abendessen vorbereiten soll – daß ich es verpasse, was um mich herum ist: zu sehen, hören, fühlen, berühren, schmecken. Wie kann ich öfter "sehen"? Mich wundern? Staunen? Überrascht sein?

Thomas Merton, der Zisterziensermönch des 20. Jahrhunderts, spricht vom "Sakrament des gegenwärtigen Augenblicks" und deutet an, daß der gegenwärtige Moment zutiefst spirituell und bedeutungsvoll ist. Das Auto, an dem ich vorbeigehe; die laute Hupe; der spritzende Regen; die verzerrte Reflexion in einem Fenster; der Wind, der in den Bäumen weht; die Gerüche gerade jetzt – für die reichen kontemplativen Traditionen sind dieses heilige Augenblicke, heilige Sakramente. Den gegenwärtigen Moment durch meinen Glauben, meine Gedanken, meine Erwartungen, Hoffnungen, Ängste – sogar meine Theologie – zu verlassen, das können genau Wege sein, das Heilige zu verpassen. Merton noch einmal: "Versuche, mit dem Denken aufzuhören und einfach zu sein . . . völlig präsent für das, was dich durch deine Sinne erreicht."

Anders ausgedrückt, Zen-Koans stoßen mich auch an, mich zu wundern, Interpretationen und Erwartungen loszulassen, meinen Geist zu leeren – wieder einmal ganz präsent zu sein. Thich Nhat Hanh, der vietnamesische Zen-Meister, regt an, daß Achtsamkeit bedeutet, mein Bewusstsein für die gegenwärtige Realität lebendig zu halten; ohne Urteil wahrzunehmen; um meine Handlung von Leistung auf Nicht-Leistung umzuleiten.

Inmitten des Leids und des Stresses der Pandemie hat mich meine kontemplative Reise der letzten drei Jahre überrascht. Lockdown; der Blick aus den Fenstern, aus denen ich 30 Jahre lang geschaut habe; wenige Orte, zu denen ich gehen konnte – langsam begann sich eine ganz neue Welt zu entfalten. Mir ist aufgefallen, was ich nicht kontrollieren kann, nämlich den Wind! Meine gewohnte Erwartung war, kahle Bäume (Winter), knospende Bäume (Frühling), Bäume voller Blätter (Sommer) und wunderbare Herbstfarben zu sehen. Aber solche Annahmen verschleiern allzu leicht den Augenblick. Eine Möglichkeit in dem Moment zu bleiben, bestand darin, dem Wind dabei zuzusehen, wie er die gleiche Szene in einer Langzeitbelichtung "malt". Dies ermöglichte es, mir bekannte Erwartungen loszulassen, da der Wind etwas ganz Unvorhergesehenes präsentierte, indem er ständig Zweige, Knospen, Blätter, Farben auf endlos unterschiedliche Weise "malte", völlig neu für mich, oft ziemlich atemberaubend! Die reiche Tradition des keltischen Christentums spricht von "thin places", an denen das Heilige und das Gewöhnliche manchmal zu verschmelzen scheinen. Um es mit dem Psalmisten zu sagen: "Sei still und erkenne . . . . "

 

Dr. David Chandler

Emeritierter Professor für Philosophie & Religion

Franklin College

400 West Adams St.

Franklin, IN  46131 USA

Künstler/Künstlerin

Dr. David Chandler

Datum
12-2022
Material & Größe

Photo auf Leinwand 75*100